Preisträgerin im Landeswettbewerb Ba-Wü

24. Landeswettbewerb Deutsche Sprache und Literatur Baden-Württemberg 2014

Eine Stimme erscholl in meinem Kopf. Du hast es versprochen! Grandpa. Aber das konnte nun beim besten Willen nicht sein. Ich erinnerte mich wieder daran, wo ich mich befand, was ich versprochen hatte. Ich sollte stark sein. Papier raschelte in meiner Hand. Der Zettel. Die Buchstaben verschwammen vor meinem Blick. Ich schluckte, war einem Zusammenbruch schon wieder schrecklich nahe. Aber ich hatte es versprochen. Kein Zusammenbruch mehr. Keine Tränen in der Öffentlichkeit. Das sollte ich meiner Großmutter nicht zumuten. Die Tränen ließen sich nicht zurückhalten. Die Wut züngelte nach oben, ich konnte nichts tun. Zu viele Gefühle sammelten sich in meiner Brust. Zu viel, was ich sagen wollte, sagen musste, durfte um keinen Preis gehört werden. Die Stimme in meinem Kopf wurde lauter, fordernder: Ihr habt kein Recht zur Trauer, kein Recht, über diesen besten aller Männer zu sprechen! Ihr wolltet ihm ja nicht einmal helfen! Ihr wart ihm alle zuwider in eurer Korrektheit! Er hat mich verlassen. Wie konnte er das tun? Er war doch das Einzige, was mich in diesem Haus, diesem Leben hielt. Ich zwang mich, tief Luft zu holen und aus dem Teufelskreis meiner Gedanken auszusteigen, wie mein Therapeut es mich gelehrt hatte. Ich kämpfte hart, aber ich wusste, ich konnte nicht gewinnen. Ich musste hier raus. Auf keinen Fall durfte irgendjemand all meine Vorwürfe oder das Ausmaß meiner Verzweiflung erfahren. Ich erhob mich und war froh, als ich mich planmäßig entschuldigen konnte und behauptete, ich müsse jetzt wirklich gehen. Der Notar, der uns unsere Gaben überreicht hatte, schien zu merken, wie nah ich der Verzweiflung war und bot mir an, mich nach Hause fahren zu lassen, aber ich lehnte ab. Ich war wirklich nicht in der Verfassung für Gesellschaft und so verließ ich das triste, schmucklose Gebäude allein. Ich war erleichtert, die Betonwände hinter mir zu wissen. Es tat gut, allein zu sein und nicht mehr unter Beobachtung zu stehen. Ich begann zu rennen. Die Luft peitschte in mein Gesicht, die Tränen gruben Furchen hinein und ich gestattete mir, vollkommen in meinen Gefühlen zu versinken. Mein Brustkorb schien zu eng für meine Rippen, meine Lunge zu klein, als dass sie genug Sauerstoff aufnehmen könnte, doch ich rannte weiter. Die halbhohen schwarzen Schuhe hatte ich längst verloren und meine Socken waren völlig zerfetzt, als ich zu Hause ankam. Meine Füße brannten und ich musste nicht hinschauen, um zu wissen, dass ich an den Fußsohlen blutige Blasen hatte. Mein Körper war einem Kollaps gefährlich nahe, und ich ließ mich auf mein Bett im zweiten Stock fallen, um mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Es knisterte in meiner Tasche. Überrascht schaute ich nach und fand tatsächlich den Zettel meines Großvaters. Ich starrte ihn an. War ich bereit, ihn zu lesen? War ich dafür gewappnet, mir Opas Stimme vorzustellen, wie sie mir die Worte auf dem Zettel vorlas? Worte, die ihm so wichtig gewesen waren, dass er sie mir nach seinem Tod hatte zukommen lassen? Wahrscheinlich nicht. Aber jetzt hatte ich plötzlich den beinahe unerträglichen Wunsch, mich ihm wieder nahe zu fühlen und konnte einfach nicht mehr warten. Ich entfaltete das Papier vorsichtig, als sei es heilig. Schmerzhaft langsam wurden die wenigen Worte wieder sichtbar. Ich hatte Angst. Was, wenn mein Großvater mir geschrieben hatte, dass er mich hasste? Dass auch er am Ende zu dem Schluss gekommen war, dass ich mein Leben vergeudete, weil ich nicht so regelkonform war wie meine Geschwister? Als ich mich aber schließlich doch dazu durchringen konnte, die Zeilen zu lesen, war es viel schlimmer, als wenn er mir seine Abscheu offenbart hätte. Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte. Meinem Großvater waren ein paar Zeilen so wichtig gewesen, dass er einem Notar sehr viel Geld für ihre Verwahrung gegeben hatte, und ich vereitelte in meinem Versagertum, meinem Unverständnis seinen letzten Wunsch. Ich verstand ihn nicht. Schlimmer noch, ich enttäuschte ihn. Den einzigen Menschen, dem ich vertraut hatte und der immer zu mir stand, mir versicherte, anders zu sein sei keine Krankheit. Mehr zu wollen sei keine Krankheit. Und dieser Mensch war nun fort. Er hatte mir nichts hinterlassen als viele schmerzhafte Erinnerungen und die Aufforderung: Lebe so, wie Kirschen schmecken! Mehr nicht. Als der Notar sich bei uns gemeldet hatte, war ich voller Aufregung und Angst gewesen. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Vielleicht ein besonders altes Buch oder ein Wunsch an uns, wie beispielsweise, ihn nicht zu vergessen. Das hier war wesentlich schlimmer. Und passte viel besser zu dem Großvater, den ich gekannt und geliebt hatte. Er war nie jemand gewesen, der sich selbst wichtiger nahm als andere, er hatte sich nie Sorgen um Konventionen gemacht. Vielmehr hatte er mich gelehrt, nicht alles so eng zu sehen und die konsternierten Blicke, die ich immer zu spüren bekam, wenn ich von einem meiner „Ausflüge“ in den Wald zurückkehrte oder sonst einer unpassenden Vergnügung nachging, wie meine Großmutter es nannte, mit Humor zu ertragen. Und er hatte mir einen Zufluchtsort geboten. Wieder packte mich das Bedürfnis, meinem Opa näher zu kommen, egal um welchen Preis. Ich lief in das Zimmer, in dem mein Großvater residiert hatte und wäre beinahe wieder umgedreht. Obwohl alle Möbel mit weißen Laken abgedeckt waren, war die Anwesenheit meines Großvaters doch deutlich spürbar. Immer noch roch es nach Schokolade und Karamellbonbons und ich konnte nur raten, dass Großmutter wohl doch nicht alle seine Geheimverstecke ausfindig gemacht hatte. Ich musste lächeln. Obwohl mir eigentlich durchaus klar war, dass ich den wichtigsten Menschen meines Lebens nie wieder sehen würde, erlaubte ich mir doch, für einen kleinen Moment die Augen zu schließen, und genoss die Illusion, dass sich mein Opa gleich wie immer lächelnd zu mir umdrehen würde und mir ein Stück Schokolade anbieten würde, das er erfolgreich an der strengen Kontrolle meiner Großmutter vorbeigeschmuggelt hatte. Ich stellte mir seine warmen Augen vor, das verschmitzte Zwinkern, wenn er sich ein Stück in den Mund schob und schließlich das verschwörerische Grinsen, wenn er die Tür öffnete. Die Tür. Deshalb war ich hier. Nun war Eile geboten, denn ich konnte schon die aufgeregte Stimme meiner Großmutter hören, die ihrem Entsetzen über mein Verschwinden Ausdruck verlieh. Ich blendete sie aus, zu stark waren die Schuldgefühle, ihr in dieser Zeit, die schon ohne mich schwer genug für sie war, noch zusätzliche Sorgen zu bereiten. Ich hatte es versucht, hatte versucht, mich einzufügen, ihr das Leben zu erleichtern, aber ich brauchte das jetzt, ich musste einen Weg finden, mich mit dem, was mein Großvater geschrieben hatte, auseinanderzusetzten. Kirschen waren für mich untrennbar mit dem Ort verbunden, den ich nun betrat. Sie waren das dritte und letzte Laster meines Großvaters gewesen und er hatte es mir vererbt. Immer wieder hatte meine Großmutter ihm Vorträge über gesunde Ernährung gehalten, wobei mir nicht ganz klar war, warum die Kirschen dort nicht hineinpassten, aber ich unterstellte ihr immer, dass sie uns diesen Genuss einfach missgönnte und die Kontrolle nicht verlieren wollte. Ich war vermutlich ein bisschen unfair, wenn ich ihre Pläne verurteilte, aber ich konnte nicht mit ihrer Kontrollsucht und ihrer Macht, die sie über jedes Detail meines Lebens zu haben schien, umgehen. Es hatte sich jedenfalls immer aufregend und beinahe unanständig gut angefühlt, mit meinem Großvater durch eine verborgene Tür in der Decke, von der man eine Leiter herunterlassen konnte, wenn man wusste, wo sie sich befand, zu verschwinden, und gegen ein paar ihrer weniger bedeutenden Regeln zu verstoßen. Wie zum Beispiel gegen das Kirsch- Verbot. Oben befand sich der Dachstuhl, den mein Großvater zur Hälfte mit alten Planken gedeckt und anschließend mit alten Matratzen, Decken und Kissen ausgelegt hatte und der kleine Kühlschrank, in dem sich unsere größten Köstlichkeiten befanden. Kirschen in Hülle und Fülle. Im Winter aßen wir sie direkt aus Einmachgläsern und im Sommer fand sich fast immer ein Weg, frische Kirschen durch das Haus bis nach ganz oben zu schmuggeln. Natürlich wurden wir auf dem Weg häufig erwischt und zu Strafdiensten verdonnert, die wir dann auch immer reumütig verrichteten, aber der Triumph und der Genuss waren es wert. Dieser Ort war beinahe magisch. Fast jede Woche hatte meine Großmutter ein neues Versteck meines Großvaters entdeckt, in dem sich dann Schokolade oder Bonbons oder vorzugsweise auch beides befanden, aber diesen Ort hatte sie nie entdeckt, obwohl er uns schon seit vielen Jahren als Zuflucht diente. Ich verschloss vorsichtig die Tür und sah mich um. Anders als unten hatte hier niemand versucht, den Verstorbenen auszulöschen. Dieser Raum hatte sich nicht verändert. Er war nicht sorgsam weiß abgedeckt wie alles andere, was auch nur im Entferntesten an den ehemaligen Hausherrn erinnern könnte, sondern barg noch immer die Seele meines Großvaters. Der Geruch, leicht süßlich und unbestimmt sommerhaft, konnte nur von den Kirschen kommen. Sie waren einfach unbeschreiblich. Und nun konnte ich nicht mehr. Ich wollte auch nicht mehr. Ich brach einfach mitten auf dem Lager zusammen und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Das ständige Sich- Zusammenreißen forderte seinen Tribut. All meine Trauer und die Sehnsucht nach Verständnis und Wärme bahnten sich ihren Weg nach draußen. Unaufhaltsam flossen meine Gefühle begleitet von einem Strom aus Tränen in den Teppich hinein. Vernunft war mir in diesem Moment egal. Ich konnte nicht verstehen, wie mein Großvater einfach so sterben konnte, wie er mich in diesem Leben ohne jeden Halt zurücklassen konnte, wie irgendjemand denken konnte, ich könnte weitermachen, als hätte ich ihn nie verloren. Dabei war es mir selbst eine Zeit lang geglückt, mir vorzumachen, ich könnte meiner Familie zuliebe durchhalten, könnte mich selbst so von meinen Gefühlen abschotten, dass ich dennoch eine Hilfe sein könnte. Mein Therapeut war von Anfang an dagegen gewesen. Er hatte mich gewarnt, dass nicht verarbeitete Erlebnisse irgendwann ihren Weg nach außen zu finden pflegten und es einfacher und sinnvoller sei, sich gleich offen mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Er hatte doch tatsächlich den Ausdruck „kontrollierte Gefühlsbewältigung“ verwendet und mich dabei angelächelt, als hätte er gerade die Lösung all meiner Probleme offenbart. Nicht zum ersten Mal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn zu schlagen, oder ein paar Schläger anzuheuern, die das vielleicht auf professionellere Art erledigen könnten und nicht zum ersten Mal hatte ich mich dagegen entschieden. Wie so oft war ich nur wütend auf ihn gewesen, weil er mir die Wahrheit, die ich nicht hören wollte, so unverblümt ins Gesicht gesagt hatte. Ich lag auf dem Teppich und hatte nicht das geringste Bedürfnis, wieder aufzustehen. Ich wollte einfach für immer hier liegen bleiben und die Welt an mir vorbeiziehen lassen. Sollten sich doch andere um die Probleme der Welt und des Lebens kümmern. Ich könnte den Rest meines Lebens auf diesem Teppich liegen bleiben und mir vormachen, nichts habe sich verändert. Ein durchaus verlockender Gedanke. Keine Großmutter, keine Geschwister, einfach ich. Aber da war sie auch schon wieder. Kaum dass ich mich ausgeweint hatte, erscholl wieder die überaus lästige Stimme in meinem Kopf, die hinterhältigerweise den Ton meines Großvaters angenommen hatte. Diesmal war die Botschaft ebenso klar wie ernüchternd: Reiß dich zusammen! Verdutzt setzte ich mich auf, ich war fast schon wütend. Der wichtigste Mensch in meinem Leben war verstorben und mein Unterbewusstsein gönnte mir nicht einmal ein paar Zusammenbrüche. Ich kam zur Besinnung und dachte an den Mann, den ich verloren hatte. Den Mann, der so viel daran gesetzt hatte, mir noch eine letzte Botschaft zukommen zu lassen. Lebe so, wie Kirschen schmecken! Ich öffnete den Kühlschrank und fand prompt ein paar Gläser mit Schattenmorellen. Rätselnd betrachtete ich das wertvolle Gut und fragte mich zum wiederholten Male, was der alte Mann, der mir sicher einiges an Wissen, Reife und Erfahrung voraus gehabt hatte, wohl gemeint haben könnte. Einerseits war ich überzeugt, dass mein Großvater um einiges weiser gewesen war, als ich es je sein würde und so lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich es gar nicht verstehen konnte, aber anderersseits hatte er sicher gewollt, dass ich ihn verstand, was bedeutete, dass ich vielleicht auf die Lösung kommen konnte. Wie schmeckten Kirschen? Sie waren süß. Lecker. Kirschig eben. Aber man konnte weder süß, noch lecker, noch kirschig leben. Eine bessere Beschreibung fiel mir zu diesem Zeitpunkt aber nicht ein. Frustriert öffnete ich ein Glas und schob mir eine Kirsche in den Mund. Der Geschmack, der sich langsam in meinem Mund ausbreitete versetzte mich zwei Jahre zurück, als mein Opa und ich nach einer weiteren Belehrung meiner Großmutter zum Thema des Ernährungsplans hier gesessen und Kirschen genascht hatten. Auf einmal fragte mich der in die Jahre gekommene Mann neben mir: „Schmeckst du die Freiheit?“ Ich sah ihn verwirrt an. Ich dachte darüber nach, warum mir die Kirschen immer so gut geschmeckt hatten, und mir wurde klar, dass es wirklich zum Teil immer darum gegangen war, dass ich sie eigentlich nicht essen durfte. Die Kirsche war in diesem Moment mehr als nur süß, sie war ein Zeichen für mich und alle anderen, dass ich noch ein bisschen Freiheit hatte, dass ich mich manchen Regeln widersetzen konnte, wenn ich wollte, und meine Großmutter doch nicht über alles die Kontrolle übernehmen konnte. Ich nickte also. Ja, Kirschen waren Freiheit, ich konnte sie ganz klar auf der Zunge schmecken und ich konnte stets ein bisschen Freiheit erleben, wenn ich eine Kirsche aß. Ich schob mir eine weitere Kirsche in den Mund und ließ meine Gedanken weiter schweifen. Diese Kirsche führte mich noch weiter zurück, in eine Zeit, in der ich mir nur allzu bewusst gewesen war, dass ich außerhalb meines Zuhauses kaum jemanden näher kannte und selbst die Bewohner meines Hauses mich nicht wirklich verstehen konnten. Mit Ausnahme meines Großvaters natürlich. Er war mein einziger Halt gewesen, er lenkte mich ab, munterte mich auf und versicherte mir unermüdlich, dass ich es wert sei, dass man mit mir befreundet war. Wieder saßen wir auf dem Dachboden. Er steckte mir lachend eine Kirsche in den Mund und kitzelte mich durch. Ich konnte nicht aufhören zu lachen und verschluckte mich fast an der Kirsche. „Schmeckst du die Kameradschaft?“ Die Frage klang trotz unserer heiteren Stimmung ernst, deshalb nahm ich mir Zeit zu überlegen. Mein Opa saß jetzt ganz still neben mir, er rührte sich nicht einmal, aber ich wusste, dass er da war, dass er jede Antwort akzeptieren würde. Ich war sicher. Kirschen schmeckten wie unsere Kameradschaft. Opa lächelte. Die nächste Kirsche landete fast automatisch in meinem Mund. Lächelnd ließ ich mich weiter in die Vergangenheit treiben. Die Zeit, in der ich versucht hatte, Großmutter zu überreden, den Hauslehrer wegzuschicken und mich zugunsten meines Soziallebens in eine normale Schule gehen zu lassen. Ich saß oben, schaute meinen Großvater vertrauensvoll an und erzählte ihm von meinen Schlachtplänen. Natürlich erklärte er sich sofort bereit, mich in meinem Kampf für die gerechte Sache zu unterstützen und arbeitete Verbesserungsvorschläge aus. Ich sagte ihm, dass ich bereit war, alles zu geben, um mein Ziel zu erreichen. Er lächelte mich nachsichtig an und erklärte mir, die Kirschen schmeckten nach Kampfgeist. Ich grinste zurück, ich war bereit, mich meiner Großmutter und ihren Bedenken zu stellen und sie alle zu zerstreuen, koste es, was es wolle. Der Kampfgeist breitete sich in mir aus. Meine Großmutter beschloss später, dass die schädlichen Einflüsse der Schule und des Schulweges doch zu groß seien und ich zu Hause bleiben müsse, woraufhin ich meine ganze Trauer und meinen ganzen Frust dadurch zu lindern versuchte, dass ich tafelweise die Schokolade meines Großvaters aß. Die nächste Kirsche war hart, sie schmeckte auch nicht richtig, irgendwie körnig. Sie nahm mich noch weiter in der Zeit zurück zu einer ähnlich schlecht mundenden Kirsche, die ich damals beinahe wieder ausgespuckt hätte. Mein Großvater lächelte, als ich ihn entsetzt anstarrte. Dass es auch Kirschen geben konnte, die nicht dem Ideal des wunderbar leichten und unwiderstehlichen Geschmackserlebnisses entsprachen, war bis dahin nicht einmal vorstellbar für mich gewesen. Ich konnte nicht ahnen, dass mein Großvater bis zu diesem Tag immer versucht hatte, die schlechten Kirschen aus dem Glas zu angeln, bevor ich eine von ihnen entdecken konnte und somit das Märchen von dieser einen immer gleich wundervollen Erfahrung aufrecht zu erhalten. Nun blickte ich in seine verschmitzten Augen und suchte nach einer Erklärung. Er lieferte sie mir, indem er mir bereits die nächste Kirsche hinhielt. „Das,“ sagte er „war eine schlechte Kirsche. Probiere diese hier, sie wird nach Durchhaltevermögen und Wiederaufstehen schmecken.“ Und er hatte Recht. Wenn man eine schlechte Kirsche gegessen hat, dann hat man möglicherweise gar keine Lust mehr auf die nächste Kirsche, man hat Angst, sie könne genauso schlecht schmecken, aber dank meines Opas war mir immer klar, dass schlechte Kirschen nicht zählen, sie sorgen nur dafür, dass man die Wiedererstehung eines Geschmackswunders erleben darf. Lächelnd nahm ich die nächste Kirsche. Ich erinnerte mich daran, wie oft mich mein Großvater an diese eine Kirsche erinnert hatte. Ob ich nun bei einer seiner heimlichen Trainingsstunden vom Fahrrad gefallen war, weil ich sonst nur auf dem Heimtrainer sitzen durfte und er mich dazu bewegen wollte, wieder in den Sattel zu steigen oder meine Großmutter mir weitere Einschränkungen auferlegt hatte, weil sie mein Verhalten für unangemessen hielt, er erinnerte mich daran, dass das alles nur schlechte Kirschen seien, deren Geschmack bald vergehen würde. Irgendwann fing ich an, ihm zu glauben. Gedämpfte Rufe holten mich in die Gegenwart zurück. Sie mussten ganz schön laut sein, wenn ich sie auf dem Dachboden noch hören konnte. Beinahe klangen sie schon panisch. Einen Moment krochen die Schuldgefühle in mir hoch, schließlich brauchten die anderen nicht noch mehr Dinge, um die sie sich Sorgen machen mussten, aber dann dachte ich voller Trotz, dass ich mir diese einsamen Momente während der letzten Wochen redlich verdient hatte und mir so viel Mühe ihnen zuliebe gegeben hatte, die sie gar nicht zu würdigen gewusst hatten. Sie sahen immer nur meine Verfehlungen, meine Unfähigkeit, so zu sein wie sie es erwarteten. Ich hatte ein Recht darauf, mich in Ruhe dem zu widmen, was mein Großvater mir hinterlassen hatte. Ich biss in die nächste Kirsche. Vor langer Zeit hatte ich schon einmal hier oben gesessen und Rufe ignoriert. Damals natürlich in Begleitung. Mein Großvater kicherte, als die wütende Stimme meiner Großmutter näher kam und sich dann wieder entfernte. Er liebte es, einen Ort zu haben, den nur wir beide kannten und der seine Frau ausschloss. Er liebte seine Frau damals, denke ich, schon lange nicht mehr, er blieb nur um der alten Zeiten Willen, der Zeiten, in denen meine Mutter noch gelebt hatte. Die waren jedoch schon lange Vergangenheit. Kurz nachdem mein Vater an Leukämie gestorben war, starb auch meine Mutter bei einem Autounfall, allerdings untersagte meine Großmutter jedes Gespräch über meine Mutter, sodass ich nur das wusste, was mein Großvater mir heimlich erzählt hatte, natürlich bei Kirschen und Schokolade. Jedenfalls genoss er die Vorstellung, einen Ort geschaffen zu haben, an dem sie ihn nicht erreichen konnte und der uns somit vor ihrem Zorn bewahrte. Er sah zu, wie ich grinsend eine Kirsche zu meinem Mund führte, von der blutroter Kirschsaft troff, und erkundigte sich dann: „Schmeckst du die Geborgenheit?“ Und zu diesem Zeitpunkt, als die frustrierte Stimme meiner Großmutter verklang und ich eingehüllt in Decken auf dem weichen Untergrund saß, schmeckte ich tatsächlich auch in dieser Kirsche einen Hauch von Geborgenheit. Meine Hand wanderte nochmals zu meinem Mund und ich schluckte, als ich mich an das Bild meiner Mutter im Medaillon meines Großvaters erinnerte. Ich hatte ihn so lange bedrängt, bis er mir erneut von meiner Mutter erzählte. Er sagte immer genau die richtigen Sachen. Ich sei ihr sehr ähnlich, sagte er, sie sei warmherzig und großzügig und auch ein bisschen stur gewesen. Dann, als er sich meiner vollen Aufmerksamkeit sicher war, zeigte er mit ihr Foto. Ich schaute es nur an. Dann sah ich zu ihm auf. Er erschrak über meine wenig begeisterte Reaktion. Offenbar hatte er mit etwas mehr Enthusiasmus gerechnet. Ich gestand ihm, dass ich sie vermisste. Mehr als sonst irgendjemanden. Ich war total verwirrt, weil ich nicht verstehen konnte, dass ich eine Person vermisste, die kurz nach meiner Geburt gestorben war. Ich hatte sie kaum gekannt und konnte mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Wie konnte sie mir da so wichtig sein? Mein Opa lieferte mir die Erklärung. Er hielt mir eine Kirsche hin. Ich biss hinein. Zögernd stellte er die Frage: „Schmeckst du die Liebe?“ Ich sah ihn verständnislos an. Er nahm mich in den Arm. Mir wurde warm ums Herz. „Du vermisst sie, weil sie dich so sehr geliebt hat und weil Liebe im Gegensatz zu allen Erfahrungen etwas ist, was man nie vergisst. Schmeckst du sie jetzt?“ Ich dachte an meine Mutter. Ich schmeckte rein gar nichts. Ich denke, das war das einzige Mal, dass mein Großvater sich in meiner Gegenwart irrte. Ich glaube, dass ich mich nur deshalb so sehr nach meiner Mutter sehnte, weil ich mit ihr eine normale Kindheit hätte haben können, ich vermisste nicht meine Mutter als Person, sondern das Leben, für das sie stand. Die Kirsche schmeckte fad, als ich an meine Mutter dachte. Aber Großvater wollte doch, dass ich die Liebe schmeckte. Ich konnte ihn nicht anlügen. Aber ich spürte seinen Arm auf meinen Schultern, spürte die Wärme, die von ihm ausging und auf einmal wusste ich, was er meinte. Der Geschmack kehrte zurück, als ich an all die Dinge dachte, die uns verbanden. Ich schloss die Augen und lächelte. Ja, jetzt konnte ich die Liebe wirklich schmecken. Eine weitere Kirsche, eine weitere Erinnerung. Ich kniete auf dem Teppich und versuchte gerade angestrengt, eine Strafpredigt zum Thema „Sich-Herausschleichen-und-Fahrradfahren“ zu verdrängen, inklusive der über mich verhängten Strafe, als mein Großvater, der sich meine Klagen und Hasstiraden schon eine geschlagene halbe Stunde mit gebührendem Ernst angehört hatte, mich aufforderte, mich bereit zu halten. Perplex schaute ich ihn an. Was hatte er vor? Er griff sich das zwischen uns stehende Kirschenglas und befahl mir, die Hände hinter den Rücken zu halten. Dann fing er an, mir Kirschen in den Mund zu werfen, beziehungsweise an meinen Kopf, da er nicht besonders treffsicher war. Als ich gerade begriffen hatte, wie ich mich bewegen musste, um die Kirschen mit dem Mund zu fangen, es ging am besten, wenn man ihre Flugbahn abschätzte und dann den Kopf möglichst weit in den Nacken legte, um sie von unten aufzufangen, beschleunigte er das Tempo. Ich hatte keine Chance mehr. Irgendwann fing ich an, die Kirschen aufzufangen und zu ihm zurückzuwerfen. Unsere Schlacht endete mit einem leeren Glas Kirschen, einem ziemlich fleckigen, mit Kirschen übersäten Teppich und zwei lachenden, nebeneinander liegenden Personen. Die ältere der beiden sammelte immer noch keuchend eine Kirsche vom Teppich auf und bot sie der kleineren an. Ich griff ohne zu zögern zu. Er fragte: „Schmeckst du die Ausgelassenheit?“ Sie schmeckte einfach herrlich. Lachend nickte ich, ich schmeckte definitiv die Ausgelassenheit, oder zumindest ihren Nachgeschmack. Was den Teppich betrifft, die roten Flecken sind immer noch zu sehen, auch wenn wir uns später redlich Mühe gaben, ihn zu reinigen. Jetzt vermisste ich meinen Großvater wirklich. Er war der beste Mensch gewesen, den ich je kennengelernt hatte. Wobei das bei unserer isolierten Lebensweise auch nicht wirklich ein Wunder war. Es tat so weh, ihn zu vermissen, aber gleichzeitig liebte ich es, mich an ihn zu erinnern. Ich hatte sogar das Gefühl, als würde es mir helfen. Es war ein guter Schmerz, den ich fühlte, denn er bedeutete, dass mein Großvater nicht gegangen war, ohne Spuren zu hinterlassen und er gab mir einen Teil unserer Verbundenheit zurück. Es mag merkwürdig klingen, aber dieser Schmerz nahm eine große Last von meinen Schultern. Ich fühlte mich zwar zerschlagen und einsam, aber ich musste nicht mehr so tun, als würde es mich nicht kümmern, dass ich nun allein war. Ich gönnte mir eine Pause, um mir über meine Emotionen klar zu werden. Ein Teil davon war der Widerhall der Vergangenheit. Meine Erinnerungen kamen mir so lebendig vor, dass ich mich tatsächlich so fühlte wie damals und die Gefühle auch schmeckte. Dann war da natürlich noch die Trauer, die mich immer überkam, wenn ich daran dachte, wie viel ich mit ihm verloren hatte. Die Verzweiflung, weil ich nicht wusste, ob ich stark genug war, ohne den alten Mann zu überleben. Und dann war da noch das Triumphgefühl, weil ich verstanden hatte, was mir mein Großvater hatte sagen wollen. Er hatte ganz sicher gewusst, dass ich mich über kurz oder lang daran erinnern würde, was er mir alles erzählt hatte. Ein Triumph, den ich so hinnahm, aber noch fühlte ich mich nicht bereit, wirklich zu entschlüsseln, was er mir hatte sagen wollen. Denn da war noch eine Bewegung, schleichend, beinahe unerkannt. Angst. Ich ahnte unbewusst, dass mein Großvater nicht gewollt hatte, dass ich mich auf dem Dachboden verkroch und in Erinnerungen an eine bessere Zeit versank. Aber genau das wollte ich tun. Vielleicht war es feige von mir, vielleicht auch rücksichtslos, doch ich war noch nicht bereit, mich dem zu stellen, was mich in den unteren Stockwerken erwartete und so beschloss ich für den Moment, noch hier oben zu bleiben und nach weiteren Dingen zu suchen, die mein Großvater mir hatte sagen wollen. Die nächste Kirsche fand ihren Weg in meinen Mund. Quälend langsam breitete sich ihr Geschmack aus und einen Moment bekam ich Angst, der Strom von Erinnerungen könnte versiegt sein, aber dann entstand ein neues Bild in meinem Kopf. Erst war ich verwirrt, denn ich sah mich nicht mehr auf dem Dachboden sitzend, sondern auf einem Platz, umringt von Bäumen. Mein Großvater lächelte mich aufmunternd an: „Ich halte dich!“ Ich dagegen war eher verzagt. Es war das erste Mal, dass ich auf einem Fahrrad saß. Opa streckte mir eine Hand entgegen, während er mit der anderen das Rad festhielt. Seine grünen Augen fixierten mich: „Du schaffst das schon! Ich bin ja da!“ Und ich glaubte dem alten Mann. Wenn er versprach, mich zu halten, dann würde er das auch tun, da war ich sicher. Ich ergriff die dargebotene Hand, stieg auf das Fahrrad und wendete dabei nicht den Blick von meinem Helfer ab. Er würde mich halten. Diese Gewissheit war das einzige, das mich davon abhielt, sofort wieder abzusteigen und sie brachte mich auch dazu, meine Füße vom Boden abzuheben. Er ließ mich nicht fallen. Ein paar Meter weiter hielt er mich an und ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Trotz allem ein beruhigendes Gefühl. Mein Großvater kramte in seiner Tasche und förderte eine kleine Tupperdose voller Kirschen zutage. Ich wusste, wonach die Kirsche schmeckte, noch bevor er fragte. Vertrauen ist beinahe das Schönste, was man schmecken kann. Ich öffnete die Augen. Für einen Moment war ich überrascht, keine Bäume um mich herum zu sehen und nicht in das von Lachfältchen durchzogene Gesicht meines Großvaters zu blicken, das einzige was blieb, war der Geschmack des Vertrauens auf meiner Zunge und die leise Trauer darüber, diesen Augenblick nicht für immer festhalten zu können. Ich wusste, das, was ich damals erlebt hatte, war etwas ganz Besonderes gewesen und ich wusste auch, dass es keinen Menschen mehr auf der Welt gab, der mich noch dazu überreden konnte, etwas ähnlich Angsteinflößendes zu versuchen, weil es niemanden mehr gab, dem ich so vertraute. Nun gab es niemanden mehr als mich selbst, der mich zu Abenteuern verleiten konnte. Ich fischte im Glas nach dem nächsten Erlebnis und wurde nicht enttäuscht. Ich war jung, sehr jung. Ich kam nicht gut klar mit der strengen Lebensweise, noch schlechter als heute. Ich hatte Angst vor dem Zorn meiner Großmutter und glaubte selbst, ich sei ein integrationsunfähiger, sozial minderbemittelter Versager. Zu dieser Zeit zog ich zum ersten Mal in Erwägung, mich umzubringen. Nicht einmal, weil ich mich selbst hasste, sondern weil ich mich selbst nur als Belastung sah. Es waren Kleinigkeiten, die ich falsch machte, wie einen Fleck vom Essen auf der Bluse zu haben oder keine passenden Schuhe zu tragen, aber davon leider jede Menge und meine Großmutter schrie mich in dem immer verzweifelteren Bemühen, eine Dame aus mir zu machen, jedes Mal an. Als Kind konnte ich nicht erkennen, dass meine Großmutter mich nicht wirklich verabscheute. Je mehr ich mich bemühte, desto mehr ging schief. Ich war einfach nicht gut genug. Das Einzige, was mich rettete, war mein Großvater. Er war so besonders, immer ruhig und geduldig und er war vor allem anders. Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf Dinge, die mir gut lagen, auf Talente, die ich bis dahin nie bemerkt hatte. Er gab mir das Gefühl, gut genug zu sein. So auch an dem Nachmittag, als wir den Dachboden für vollendet erklärten. Der Bau des Dachbodens hatte sich deshalb als so schwierig erwiesen, weil wir nur arbeiten konnten, wenn alle anderen sich außer Haus befanden. Er hatte mich mithelfen lassen und schließlich war es nicht mehr sein Projekt gewesen, es war zu unserem geworden. An jenem Tag war es endlich so weit. Der Mini- Kühlschrank inklusive Kirschen bildete den krönenden Abschluss unseres Projekts. Wir grinsten uns an. Dann hielt er mir eine Kirsche vor die Nase. Ich ließ mich nicht lange bitten und genoss die erste Kirsche, die in dieser Zuflucht jemals gegessen wurde. Mein Opa begann das Spiel, das wir noch Jahre später weiterführten: „Schmeckst du den Stolz?“ Und als ich betrachtete, was wir gemeinsam geschaffen hatten, da schmeckte ich ihn wirklich und war mir dessen vollauf bewusst. Ich war stolz auf ihn und auch stolz auf mich selbst. In diesem Moment konnte ich wirklich glauben, dass ich wertvoll und liebenswert war. Ich rollte mich zusammen und fragte mich, ob mein Großvater wohl gewusst hatte, wie viel er mir bedeutet hatte. Er war immer mein Anker gewesen, besser als jeder Therapeut, zu dem ich hätte gehen können. Er hatte sich mehrfach den Regeln widersetzt und meiner Großmutter die Stirn geboten, damit ich sah, dass es auch andere Möglichkeiten gab, wie man sein Leben zubringen konnte. Gedankenverloren schob ich mir die nächste Kirsche in den Mund. Es war nicht lange her. Ich blickte meinen Großvater traurig an und erzählte ihm von den Bewerbungsschreiben, die ich aufgesetzt hatte und in denen ich um Aufnahme an verschiedenen Fakultäten, die Jura lehrten, bat. Alle Mitglieder dieser Familie hatten Jura studiert und anschließend in der familieneigenen Kanzlei gearbeitet. Dieser Lauf unseres Lebens war seit Generationen ein ungeschriebenes Gesetz. Schon von klein auf hatten wir Unterricht in verschiedenen Argumentationsweisen und wurden mit Gesetzen vertraut gemacht. Und vor einer Woche hatte mir meine Großmutter einen Stapel aus Broschüren von verschiedenen Universitäten vor die Nase geknallt und mich dazu aufgefordert, mir meine Favoriten herauszusuchen. Ich hatte gehorcht. Der verständnislose Blick meines Großvaters bohrte sich in meine Seele. Er sah enttäuscht aus. Ich hatte mit Mitgefühl gerechnet, aber er sah eher so aus, als würde er mich am liebsten gleich selbst die Treppe des Dachbodens herunterstoßen und die Tür hinter mir zuschlagen. Er sah mich lange so an und unter seinem Blick wurde ich ganz klein. Ich war unbedeutend neben ihm. Wieder schaffte er es, mich zu überraschen, denn er hielt mir auf einmal einen Spiegel vor mein Gesicht und forderte mich auf, ihm zu sagen, was ich wolle. Merkwürdigerweise wusste ich das gar nicht so genau. Ich hatte mir nie erlaubt, darüber nachzudenken, welchen Weg ich selber gern gehen würde, damit ich mich leichter mit dem Leben, das für mich vorherbestimmt war, abfinden konnte. Nun zwang mich mein Großvater, diesen Schutz abzulegen. Dabei war es so leicht. Ich wollte mit Leidenschaft studieren. Ich wollte Kunst studieren. Das sagte ich ihm. Da lächelte er und legte mir Anmeldebögen von Kunstakademien aus der ganzen Welt vor die Nase. Meinen ungläubigen Gesichtsausdruck ignorierte er. „Wie wichtig ist dir dieser Weg?“ Statt zu antworten nahm ich die Papierbögen an mich und blickte zu ihm auf. Er verstand. Er reichte mir mit feierlicher Miene eine Kirsche. „Schmeckst du die Hoffnung?“ Und ja, er hatte mir Hoffnung gegeben. Hoffnung auf ein anderes Leben, das mehr zu mir passte, als ich es jemals zuvor zu hoffen gewagt hatte. Noch in derselben Woche trug ich die Bewerbungsschreiben heimlich zur Post. Die nächste Kirsche, eine schmerzvolle Erinnerung. Ich hatte einen herrenlosen Welpen gefunden, dessen Besitzer sich nicht meldete. Natürlich wollte ich nichts lieber, als den Hund zu adoptieren und einen weiteren Freund zu gewinnen. Ich liebte ihn von dem Augenblick an, in dem er sich in meine Arme schmiegte. Ich wollte ihn beschützen. Obwohl ich hart dafür kämpfte, dass der Welpe bleiben durfte, war das aufgrund der Tierhaar-Allergie meiner ältesten Schwester keine Option. So verlor ich meinen kleinen Freund an das örtliche Tierheim und sah ihn nie wieder. Als er fort war, verzog ich mich auf den Dachboden und gab mich in aller Ruhe meiner Trauer und Wut hin. Ich hatte das Gefühl, als wollte mir die Welt alles wieder nehmen, was ich liebte. Nach gefühlten Stunden kam schließlich mein Großvater. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es nur einen Ort gab, an dem ich mich aufhalten konnte, nur einen Ort, an dem ich mich richtig sicher fühlte. Da stand er nun, in seinen Händen einen riesigen Stoffhund haltend, und legte sich neben mich. Ich ignorierte ihn. Er wusste genau, dass ein Stofftier keinen Freund ersetzen kann. Nicht für mich. Dann fing Großvater an, von meinem Leben zu sprechen. Er malte mir aus, wie ich irgendwann nicht mehr hier sein würde. Wie ich meine Freunde selbst aussuchen würde und wie ich selbst darüber entscheiden könne, welche Tiere in Not ich aufnehmen wolle. Er sagte, diese Familie sei nicht bereit für einen unerwarteten Zuwachs, doch irgendwann würde sie es definitiv sein. Ich glaubte ihm, wie ich es immer tat. Dann tat er das, was mein Großvater immer tat. Er holte eine Kirsche aus einer Tüte, keine eingelegte oder getrocknete, sondern eine frische, saftige Kirsche, die er erst gerade auf dem Markt erstanden hatte. Ich kostete und verzog den Mund zu einem Lächeln. Er setzte den überdimensionierten Hund neben mich und erklärte feierlich: „So, mein Liebes, schmeckt der Trost.“ Ich weinte. Niemand würde mir heute einen riesigen Stoff-Opa vorsetzen, niemand würde sich trauen, mir zu sagen, dass ich irgendwann einen neuen besten Freund, einen neuen Vertrauten oder gar einen neuen Opa haben könnte. Es war niemand da, der sich diese Taktlosigkeit erlauben würde, um mich aufzumuntern, und niemand, dem es wichtig war, wie nah ich heute am Abgrund stand. Ich vermisste ihn, und jetzt, wo ich diesen einen Menschen am nötigsten hatte, war dieser eine fort und erwartete, dass ich mir selbst half. Ich hätte ihn gern angeschrien, ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren solle mit seinen Kirschen, die ich gern an die Wand geworfen hätte, mit seinem Stoffhund, der mir gegenüber saß und der mich aus so treuen Augen anschaute, dass ich mir bewusst wurde, wie lächerlich ich selbst doch war. Ich war tatsächlich sauer auf meinen Großvater, weil er gestorben war. Ich war auch sauer auf ihn, weil er jemals da gewesen war. Er hatte genau gewusst, dass er wahrscheinlich vor mir sterben würde, hatte gewusst, dass ich allein sein würde. Er hatte mir Ideen von einem Leben in den Kopf gesetzt, das ich haben könnte, hatte es doch tatsächlich geschafft, dass ich geglaubt hatte, ich sei fähig zu diesem Leben. Und dann war er gestorben. Hatte mich allein gelassen mit einer Idee, für die ich mich allein nicht stark genug fühlte. Ich schlug auf den Stoffhund ein. Er war zwar nicht schuld an irgendeinem Teil meiner Situation, doch es tat gut, meine Wut herauszulassen. Und so schlug ich weiter auf ihn ein. Bis ich nicht mehr konnte. Dann lag ich auf dem Boden, vollkommen entkräftet, und wusste nicht mehr, warum ich plötzlich so sauer gewesen war. Fragte mich, ob ich nun vielleicht doch komplett verrückt geworden war. Ob ich vielleicht Hilfe brauchte. Was sollte ich nur tun? Ich griff nach einer neuen Kirsche. Warum? Ich weiß es nicht genau, ich hatte einfach das Bedürfnis, mich weiter zu erinnern. Ein einzelnes Bild tauchte in meinem Kopf auf. Es war noch nicht lange her. Ich lag auf dem Boden. Mir gegenüber mein Großvater. Er schaute mich an. Ein halbes Lächeln in den Augen. Es war dieses Lächeln, das ich über die Jahre hinweg bestimmt tausende Male gesehen hatte. Es war dieses Lächeln, an das ich mich immer erinnern wollte. Und es war dieses Lächeln, das den Kirschen ihren Geschmack verliehen hatte. Wir lagen einfach nur so da, während er mir von seinen Erlebnissen erzählte, mich an einem Leben vor meiner Großmutter teilhaben ließ. Ich hörte zu, ergriff eine Kirsche und wusste genau, was ich schmecken würde. Es war ein Geschmack, der sich viel zu selten auf meiner Zunge ausbreitete. Reines, vollkommenes Glück. Ein sanftes Lächeln, ein vertrauter Augenblick. Dieses Gefühl kam aus meinem Inneren. Ich hatte mich selten so gut gefühlt wie damals. Ich wollte alle Momente, in denen ich so empfand, festhalten. Sie konservieren und nie wieder loslassen. Vielleicht war dies eines der größten Geschenke, die mein Großvater mir je gemacht hatte. Er hatte mir gezeigt, wie ich solche Erlebnisse so bewusst wahrnehmen konnte, dass ich mich Jahre später noch zurückversetzen konnte und mir immer klar war, was für ein außergewöhnliches Glück ich jedes Mal hatte, wenn ein solches Gefühl zu mir durchdrang. Sicher, es gab viele Leute, denen es besser ging als mir, die frei waren, das zu tun, was sie wollten und von ihrer gesamten Familie darin unterstützt wurden, aber sie waren sich nicht bewusst, was für ein Privileg ihnen damit zuteilwurde. Mir war das aufgrund des Drucks, den meine Großmutter ausübte mehr als klar und was mein Opa für mich tat war mehr als bloße Unterstützung. Er akzeptierte mich. Anderen war nicht klar, wie wertvoll diese Akzeptanz war. Mir schon. Ich empfand tiefe Dankbarkeit für all die Jahre, in denen ich ihn an meiner Seite wusste. Die Sehnsucht lies meine Hand wieder in das Glas wandern. Ich erschrak. Da war nichts als Saft. Kühles Nass, aber keine Kirsche. Was sollte ich tun? Das war mein Tor zu ihm gewesen. Die Möglichkeit, meinen Großvater noch einmal zu erleben, mich ihm noch einmal richtig nahe zu fühlen. Jetzt schien sie vorüber zu sein. Eine einsame Erinnerung stellte sich ein. Ich wusste, es wäre die letzte. Das Glas war ebenfalls leer gewesen. Ich war genauso enttäuscht. Das Gesicht meines Großvaters, als er mir eine Lösung anbot: „Das Glas ist leer. Jetzt ist es wie im Leben. Uns bleibt eine gewisse Zeit ohne Kirschen, aber irgendwann öffnen wir gemeinsam das nächste Glas. Dann geht es weiter. Vergiss das nie. Das eine Glas ist leer. Dann fang ein neues an.“ Ich wusste, was ich zu tun hatte. Das Glas, dass ich mir über all die Jahre mit meinem Großvater hatte teilen dürfen, war leer. Ich hatte mich erinnert. Ich hatte ihm nachgetrauert. Ich wusste, was mein Großvater mir hatte sagen wollen. Die Zeit war reif. Der Augenblick war gekommen, ein neues Glas zu öffnen. Weiterzumachen. Ich musste dankbar sein. Auch wenn es mir schwer fiel, ich musste einen Weg finden, weiterzumachen. Ich wusste, es würden keine weiteren Erinnerungen kommen. Ich wusste, die Zeit, in der mein Großvater meine Probleme gelöst hatte und ich mich auf ihn verlassen konnte, war vorbei. Endgültig. Was mir blieb, waren nur seine Lehren. Ich konnte seinen Wunsch beherzigen. Als mir dies klar war, traf ich meine Entscheidung. Langsam richtete ich mich auf und verließ den Dachboden. Kletterte hinunter zu der Familie, die auf mich wartete. Ich hatte einiges zu erledigen. Ich kann nicht behaupten, ich hätte meinen Großvater seit dem Tag auf dem Dachboden nicht mehr vermisst. Ich kann nicht sagen, ich wäre seitdem die ganze Zeit glücklich gewesen. Ich habe nicht alles verstanden, was mein Großvater mir mit dem Satz: „Lebe so, wie Kirschen schmecken“ sagen wollte. Ich bin immer noch nicht sicher. Ich zweifle, manchmal erlaube ich mir, offen zu trauern. Aber ich weiß, dass Kirschen für mich nach Freiheit und nach Kameradschaft, nach Kampfgeist und Durchhaltevermögen, nach Geborgenheit und Liebe, nach Ausgelassenheit und Vertrauen, nach Stolz und Hoffnung, nach Trost und Glück schmecken können, wenn ich sie mit dem richtigen Menschen teile. Im richtigen Augenblick können Kirschen nicht nur außergewöhnlich gut schmecken, sie können etwas bedeuten. Für mich waren sie der Grund, ehrlich zu meiner Familie zu sein, mein Wunschstudium zu beginnen und meinen Weg durch die Welt zu suchen. Ich weiß jetzt, dass ich für andere das sein möchte, was mein Großvater für mich war, und dass ich das auch kann. Wenn die Kirschen so schmecken, wie sie es sollten, dann weiß ich, dass ich den richtigen Weg gewählt habe, auch wenn er vielleicht nicht immer leicht ist.

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